Die Kustodin des Tolstoi-Hauses Nadeschda Perewersewa erzählt von ihrer Arbeit mit musealen Gegenständen und der Atmosphäre des Museums.

Der Arbeitstag im Tolstoi-Haus beginnt gewöhnlich um 9 Uhr morgens. Das Haus wird von der Kustodin geöffnet. Sie geht durch das leere Museumsgebäude, um alle Zimmer Zimmer anzuschauen. Erst nach einer aufmerksamen Prüfung geht das Haus seinem gewöhnlichen Tagesablauf nach. 

“Vor allem muss man prüfen, ob alle Gegenstände auf ihren Plätzen bleiben und in gutem Zustand sind”, sagt Nadeschda Perewersewa. “Es ist ein wichtiger Bestandteil meines beruflichen Alltags”. 

Nadeschda arbeitet in Jasnaja Poljana seit fast 25 Jahren. Vor 10 Jahren ist sie zur Museumskustodin geworden. Zusammen mit ihren Kollegen sorgt sie für den Erhalt von Objekten aus der Original-Inneneinrichtung des Tolstoi-Hauses. 

An den Arbeitstagen können im Dichterhaus mehrere Personen gleichzeitig sein. Außer der Kustodin sind das wissenschaftliche Mitarbeiter, deren Arbeit für die Besucher unsichtbar bleibt, Führer mit Reisegruppen und Museumswärter. Tagsüber sorgen die Letzteren für die Ordnung in musealen Räumen. Wie bei der Kustodin ist ihre Aufgabe, die Gegenstände aufzubewahren.  

So gut ist die Museumsarbeit schon seit langer Zeit organisiert worden. 1921, als in Jasnaja Poljana ein Museum gegründet wurde, wurde Tolstois jüngste Tochter Alexandra zur ersten Museumskustodin ernannt. Davor hatte Tolstois Witwe Sofia Andrejewna kustodische Arbeit erledigt und Inventarisierung gemacht. Aufgrund ihrer Arbeit wurde später die erste Inventarliste erstellt, die auch von gegenwärtigen Museumskustoden benutzt wird. 

“Im Tolstoi-Haus gibt es über 40 Tausend Objekte. Die meisten von ihnen sind Bücher, die gibt es über 23 Tausend.  Den Rest machen persönliche Gegenstande, Gemälde und Fotos, Möbel und Inneneinrichtung sowie Kleidungsstücke”, erzählt die Kustodin. “Alle diese wichtigen Gegenstände haben ihre eigene Geschichte. Wenn wir behaupten, dass es weltweit nur wenige Museen wie Jasnaja Poljana gibt, dann sind wir ehrlich. Hier wird nicht nur der Bestand, sondern auch die Atmosphäre aufbewahrt”. 

Seit der Museumsgründung übergeben die Kustoden den Museumsbestand an ihre Nachfolger buchstäblich von Hand zu Hand. Dabei wird auch die Inventarliste gründlich überprüft. Als Frau Perewersewa zur Museumskustodin wurde, nahm diese Überprüfung über 9 Monate in Anspruch.   

Obwohl die Inneneinrichtung des Tolstoi-Hauses unverändert bleibt, “leben” die Gegenstände ihr eigenes Leben weiter. Die Holzdielen spalten sich vor Trockenheit und knarren, die alten Schlösser in den Schranktüren klemmen, und die Porträts, die von alten Lederriemen gehalten werden, hängen schief. Manche Objekte (z. B. Fotos, die alle authentisch sind) verlangen besondere Aufmerksamkeit. Darauf muss die Kustodin immer achten.    

“Im Tolstoi-Haus “leben” die Gegenstände seit Jahrhunderten. Sie haben sich an diesen Ort gewöhnt und fühlen sich wohl ausgerechnet hier. Wir können sie weder durch andere ersetzen noch wegnehmen. Dadurch wird nicht nur die Authentizität verletzt, sondern werden auch die Gegenstände selbst beschädigt. Darum ist es unsere Aufgabe, geeignete Bedingungen für sie zu schaffen”. 

Im Haus werden bestimmte Temperatur und Luftfeuchtigkeit gehalten und gibt es eine gute Luftzirkulation. Die Kustoden haben ein besonderes Journal, wo alle Informationen über das Mikroklima einzelner Zimmer hineingetragen wird. 

Einige Gegenstände werden in verschlossenen Schränken aufbewahrt und von Besuchern nie gesehen - doch sind es auch Museumsobjekte. Das sind Bücher und Schreibutensilien, persönliche Gegenstände. Die Kustodin prüft diese Geheimplätze regelmäßig. 

“Das ist meine Pflicht. Aber mir ist es zum Beispiel schwer, den Schreibtisch von Tolstoi aufzumachen”, sagt Nadeschda Perewersewa. “Es fühlt sich so an, ob ich es nicht tun darf. Ein Schreibtisch gehört zu den vertrautesten Dingen bei einem Schriftsteller. Und hier komme ich und gehe unmittelbar mit solchen Objekten um, die von großer Bedeutung für die Weltkultur sind und über starke Energie verfügen”.

In Leo Tolstois Arbeitszimmer zeigt die Kustodin zwei Gegenstände, die oft unauffällig bleiben. “Viele Menschen denken, es sei ein Buch”, sagt Nadeschda von einem kleinen Kästchen, das auf dem langen Bücherregal steht. “Aber das ist Tolstois Reiseschach”. 

Vorsichtig nimmt sie das Kästchen zur Hand. In ihren Händen kann man kleine Schachfiguren, rot und weiß, in Einzelheiten betrachten. Jede hat ihre eigene Inventarnummer. 

Unter einem Kästchen auf demselben Regal liegt eine flache grüne Aktentasche, die noch Tolstois Vater gehört hat. Die Kustodin macht sie ebenso auf: darin finden wir Zeitungsausschnitte. 

In ihrer Erzählung über Museumsobjekte betont Nadeschda, dass man alle authentische Gegenstände nur mit Handschuhen anfassen muss. Wenn man keine hat, dann muss man vor der Arbeit Hände mit einem Desinfektionsmittel reinigen:

“Warum darf man nicht Museumsobjekte anfassen? Leider können wir auf unseren Händen Schimmelpilzsporen mitbringen, ohne es selbst zu wissen. Und es kann für die alten Dinge sehr schädlich sein. Es betrifft alle an - sowohl Besucher als auch Museumsmitarbeiter”. 

In den letzten drei Monate hat das Tolstoi-Haus ein stilles und ruhiges Leben geführt und keine Gästen empfangen. In dieser Zeit haben die Mitarbeiter planmäßige Reinigungsarbeiten durchgeführt und das Gebäude zum Besucherempfang vorbereitet.  

“Zum ersten Mal in der Museumsgeschichte hatten wir für lange Zeit keine Besucher”, sagt Kustodin. “Ich spüre immer, wenn das Haus von Besuchern “müde” wird - es gibt etwas Schweres in seiner Atmosphäre. Jetzt ist es voll Licht und Luft. In gewissem Sinn freue ich mich darauf, weil das Haus etwas Rest gehabt hat”. 

Seit kurzem ist der Besucherverkehr wieder aufgenommen. Wir hoffen, dass unsere Gäste das Tolstoi-Haus nach einer langen Pause mit anderen Augen sehen. 
Veröffentlicht : 3 juli 2020