Das Landgut Pirogovo gehörte ebenfalls zum Besitz der Tolstoi-Familie. Es liegt 35 Kilometer von Jasnaja Poljana entfernt und grenzt an das gleichnamige Dorf. Das Dorf Pirogovo hat eine altertümliche Geschichte. Im 5. und 6. Jahrhundert, ganz in der Nähe davon, am Zusammenfluss von Upa und Uperta befand sich eine prähistorische Siedlung. Laut archeologischen Befunden darf es bereits im 12. Jahrhundert bewohnt gewesen sein. Eine längere Zeit gehörte die damalige Siedlung Pirogovo-Sapovo der Gutsherrenfamilie Timiaschev. Ein gewisser Herr A.A. Timiaschev, der als Bruder Leo Tolstois Vaters dritten Grades galt, übernahm den Dorfbesitz im Jahr 1828. Das Landgut war dessen Stolz, sein „Wohlstandsborn“, da er hier einer Pferdezucht nachging, die sich auf einen mehr als 100 000 Rubel Wert belief. Gehalten wurden reinrassige Pferde, die am Pferderennen teilnahmen und Preise davon trugen. Der bejahrte reiche Junggeselle lebte monatelang ganz allein in Pirogovo und kam erst ab und zu zu seinem Vetter Nikolaus Tolstoi in Jasnaja Poljana zu Besuch, der sich u.a. um dessen uneheliche Tochter Eudokia kümmerte. Auf diese merkwürdige Vormunschaft bestand aber Timiaschev selbst, wobei seine Tochter zum Prototyp für kleine Katja in der Leo Tolstoi-Früherzählung „Kindheit“ wurde. Um deren Lebensunterhalts Willen übergab dann Timiaschev sein Landgut dem Grafen Nikolaus Tolstoi unter sehr günstigen Kaufkonditionen. Am 26. März 1837 wurde in Moskau ein Kaufvertrag für Pirogovo unterzeichnet, seitdem verfügt die Tolstoi-Familie über das Landgut.
Zum ersten Mal kam Leo Tolstoi als zehnjähriges Kind in Pirogovo unter. Unter Einfluss seiner Pirogovo-Begebenheiten entstand hier seine unabgeschlossene Kindererzählung „Großvatersgeschichten“. Bei der Familienbesitzteilung unter Tolstoi-Brüdern und ihrer einzigen Schwester im Jahre 1847 ging der Großteil des Pirogovo-Landgutes und die Pferdezuchtstation an Leo Tolstois ältesten Bruder Sergius. Ein Grundstück am gegenüber liegenden Upa-Ufer und die Mühle erhielt hingegen Tolstois Schwester Maria.
Das Herrenhaus zum „Großen Pirogovo“, das „unbeschreiblich elegant gebaut“ war, genoss über mehrere Jahrzehnte hinweg die vertrauensvolle Verbundenheit der beiden Tolstoi-Brüder. Leo Tolstoi weihte Sergius in seine künstlerischen Vorhaben gerne ein, weil er auf dessen Meinung viel Wert legte. Sergius machte sich immer Sorgen, dass die Werke seines jüngeren Bruders vollendet und veröffentlicht werden. Während seine Geschwister von ihren Landgütern abwesend waren, kümmerte sich Leo Tolstoi um deren Besitz, ging hier gerne auf Jagd und dichtete. In diesem Haus arbeitete Leo Tolstoi an seinen Erzählungen „Jünglingsjahre“, „Die Kosaken“, „Wildes Feld“ und „Die Kreutzersonate“. Ausgerechnet hier, auf dem Landgut Pirogovo entstand im Juli 1896 die Idee seiner berühmten Geschichte „Hadschi Murat.“
Das Große und Kleinepirogovo lagen nun nur ein paar Kilometer von einander entfernt und waren eng mit einander verknüpft. Das Dorf Kleines Pirogovo wurde von Leo Tolstoi höchstpersönlich für seine Schwester Maria als deren Wohnort ausgesucht. Dieser sollte über einer „unterirdischen Quelle“ liegen, wo er selbst gerne badete. Er maß die Alleen und Wege aus und bepflanzte sie mit Birken und Fichten. Ausgerechnet hier ließ Maria Tolstoi ihr Haus mit einem Zwischengeschoss errichten. Als sie zur Nonne wurde und ins Kloster ging, verkaufte sie den Grund und Boden an ihre Bauern. Das Haus ging aber in Besitz der Tolstoi-Tochter Maria, die mit ihrem Enkel verheiratet war. Leo Tolsto bat seine Tochter, sich um das Pirogovo gut zu kümmern, weil es ihm am Herzen lag und weil er dort eine Stille und uneingeschränkte Kreativität genoss. Hier wurde er oft von seinen Berufskollegen gerne besucht. So berichtet Iwan Turgenjev in einem seiner Briefe an Pauline Viardot über drei „äußerst angenehme Tage“, die er hier im Juni 1858 verbrachte. Auch der Dichter Afanassi Fet kam hier oft vorbei.
Nach der Oktoberrevolution 1917 gingen die Wege der beiden benachbarten Pirogovo-Güter rasant auseinander. Das Landgut von Sergius Tolstoi im Großen Pirogovo, so wie sein Herrenhaus, wurden geplündert und niedergebrannt. Die Mariä Geburtskirche wurde geschlossen und kam mit der Zeit herunter. Und doch immer noch erblickt man im jungen Ahorn-, Linden und Faulbeerennachwuchs die Reste einer erhabenen Parkanlage, seien es die ehemaligen Rund- und Kreuzanpflanzungen, die einst das Landgut mit der Kirche verbanden, bzw. die alten Alleen und verwilderten Flieder- und Jasminsträucher.
Mit dem Kleinen Pirogovo trug es sich zum Glück weniger tragisch zu. Erhalten blieb das Haus von Maria Tolstoi, die Bedienstetengelassen und die Reste der ehemaligen Parkanlage. Im Jahre 1999 entstand hier eine Filiale des Tolstoi-Museums zu Jasnaja Poljana und somit die Hoffnung auf die Wiederbelebung einer der wichtigsten Tolstois Familienstätten. Aufgedeckt wurden die alten Fundamente. Das Bauensemble des ehemaligen Landgutes wird restauriert. Sobald die ehemalige Mariä Geburtskirche vom Abfall befreit wurde, fand hier 2009, zum ersten Mal seit den letzten 80 Jahren, der Gottesdienst wieder statt.